FRANZ VON LISZT †.

 

    Die moderne Kriminalistenschule ist lange eine ecclesia militansgewesen, wie sie es wohl noch geraume Zeit bleiben wird. Das Heranreifen des Zweckgedankens und der Versuch ihn nicht nur theoretisch sondern auch praktisch folgerecht durchzuführen schuf einen Gegensatz nicht nur zum Vergeltungsstrafrecht —"punitur ne peccetur" anstatt "punitur quia peccatum est"sondern auch zu den relativen Theorien: die einseitige und ausschliessliche Durchführung", wie sich v. Liszt selbst ausdrückt,"eines einzelnen Strafzweckes scheitert an der Verschiedenheit der zu bestrafenden Verbrecher. Darin liegt der Grundfehler der älteren relativen Theorien". Die moderne Anschauung hat sich demgemäss nicht ohne Anfeindung entwickelt: auch hier ist gewissermassen "der Streit der Vater der Dinge" gewesen. Indem aber jener Kampfprozess gleichzeitig in verschiedenen Ländern stattfand, war die Möglichkeit gegeben, eine einheitliche, internationale Aktion zu stande zu bringen: von einem Mittelpunkt aus alle irgendwo auftauchenden Einwände aufzunehmen; ohne Hartnäckigkeit — aber auch ohne zu grosse Nachgiebigkeit — die selbstverständlich nicht zu vermeidenden Irrtümer der Schule einzugestehen und nötige Korrekturen vorzunehmen; bei wirklichen Schwierigkeiten, wie es

FRANZ VON LISZT †. 251deren genug gab, die geeignetsten Hülfsmittel ausfindig zu machen; alle irgendwie brauchbaren Gedanken behufs weiterer Verwertungzu sammeln und dem schwachen Anlauf nachzuhelfen; alle Siege, auch im kleinen, genau zu verzeichnen, um den Mut der Kämpfenden aufrecht zu erhalten — kurz, die Aufgabe für einen wirklichen Führer war da. Dieser Führer, mithin die zentrale Gestalt in derganzen Bewegung, wurde Franz von Liszt. Wie jedermann weiss, galt die Bewegung mit nichten der Wissenschaft als solchen allein: sie kam auch, vielleicht sogar in erster Linie, in vielen Ländern der Gesetzgebung zu gute — zugestanden, dass diese Siege bisjetzt immer nur partiell sind.
    Franz von Liszt besass vor allem die für eine solche leitende Stellung nötige Vielseitigkeit. Er war, wie wenige, der Mann der neuen Gedanken, verband aber — was keineswegs selbstverständlich— mit dieser Eigenschaft die eines scharfsinnigen Dogmatikers, wie schon aus seiner Abhandlung über "Meineid und falsches Zeugnis" (1876) ersichtlich. Allseitig durchgebildeter, grundgelehrter Systematiker besass er dabei eine gar seltene Klarheit der Darstellung, der ja sein Lehrbuch seine allgemeine Verbreitung —auch in ausserdeutschen Ländern — verdankt. Mit grossen Sprachkenntnissen verband er die Gabe einer ebenso scharfen wie eleganten Polemik. Als Lehrer besass er in ganz besonderem Grade die Gabeseine Schüler rein persönlich anzufassen, im eminenten Sinne eine Schule zu gründen. Bei alledem war v. Liszt wohl gänzlich frei von dem bei Bahnbrechern nicht ganz seltenen Fehler einer rücksichtslosen Konsequenzmacherei; davor hat ihn sein angeborener praktischer Instinkt und eine gewisse Geschmeidigkeit seines Wesens bewahrt. Ebenso gut wie er das Anfeuern verstand, wo solches angezeigt, wusste er auch Heissporne zu beschwichtigen.
    Das Hauptinstrument dieser Führerschaft — von einer Unzahl von Kongressen verschiedener Art abgesehen — war die von ihm zusammen mit Dochow gegründete "Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft". Die Bedeutung dieser musterhaft redigierten Zeitschrift besonders hervorzuheben ist ja jedenfalls für Kriminalisten ganz und gar überflüssig. Bekanntlich ist diese Zeitschrift im Laufe der Jahre ein ganz ebenso wichtiges Hülfsmittel der Strafrechtsdogmatik wie der Kriminalpolitik geworden.
    Ein zweites wichtiges Mittel der Internationalisierung des Straf-

252 JOHAN C. W. THYRÉN.rechts und der Strafgesetzgebung wurde die laut dem — von v. Liszt beantragten — Beschluss der internationalen kriminalistischen Vereinigung herausgegebene "vergleichende Darstellung" der Strafgesetzgebung der Gegenwart. Das Werk — zunächst an die bekannten Arbeiten von Stooss über die Kantonalgesetze anknüpfend — wurde von v. Liszt redigiert, unter Mitwirkung von Alimena, Foinitzki, Getz, van Hamel, Prins und vielen anderen hervorragenden Kriminalisten in und ausser Europa. Wenn auch, wie hier unvermeidlich, die verschiedenen Darstellungen der vielen Gesetze von sehr verschiedenem Wert sind, so wird die Zukunft doch gewiss in dieser Unternehmung den ersten Anlauf zur Grundlegung eines wirklich komparativen Strafrechts anerkennen.
    Einen sehr guten und sehr objektiven Masstab für die Bedeutungv. Liszts als Lehrer bieten die Abhandlungen aus seinem kriminalistischen Seminar, "der unerschöpflichen Fundgrube aller Kriminalisten", um mit M. Liepmann zu reden.
    Nachdem der "Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuche" i. J. 1909 veröffentlicht worden war, gab v. Liszt bekanntlich, zusammen mit Kahl, v. Lilienthal und Goldschmidt, schon i. J. 1911 einen "Gegenentwurf" heraus. Da die Verfasser dieses Gegenentwurfes verschiedenen Richtungen angehörten und es ihnen darum zu tun war, trotzdem die Möglichkeit eines einheitlichen, über den Vorentwurf hinausgehenden Gesetzbuches zu zeigen, ist der Gegenentwurf natürlich nicht als adäquater Ausdruck für v. Liszts persönliche gesetzgeberische Anschauung aufzufassen; forderte doch der rein praktische Zweck die Zurückstellung aller "Sonderansichten und Sonderwünsche".

 

    Franz von Liszt war 1851 in Wien geboren — in der Zeitalso, wo es wirklich "nur a Kaiserstadt" gab. Über seine ganze Persönlichkeit ist in der Tat immer ein Abglanz jener glücklichen Zeit geblieben, etwas von dem Zauber, von der ganz besonderen Liebenswürdigkeit des alten Wienertums, Seine artistische Begabung machte sich sogleich bemerkbar — nicht umsonst war er der Vetter des älteren Franz von Liszt. Wesentlich für seine Natur war auch ein unverwüstlicher Optimismus; noch im Frühjahr 1916, als er mich, gelegentlich einer Reise nach Schweden, in Lund be-

FRANZ VON LISZT †. 253suchte, kam diese Weltanschauung energisch zum Vorschein und er meinte den Weg klar vorzeichnen zu können, auf den die unheilvollen Wirkungen des Weltkrieges sich bald würden überwinden lassen.
    Einen Nachfolger Franz von Liszts, der seinen Mantel ganz und voll aufnähme, wird es wohl vorläufig schwerlich geben. Er hat sich aber sagen können, dass sein Werk in gewissem Sinne endgültig getan war; freilich nicht so, dass seine Ideen schon vollständig verwirklicht wären — dass wird wohl noch sehr lange dauern — aber so, dass sie den Mitlebenden in succum et sanguinem übergegangen sind und gewiss nicht vergehen, sondern ihrer Verwirklichung entgegenreifen werden.
    Lund im August 1919.


Johan C. W. Thyrén.