Das Revolutionäre im sowjetischen Zivilprozeß
Von Dr. HEINRICH NAGEL, Senatspräsident beim Hanseatischen Oberlandesgericht in Bremen
I.
Geschichtlicher Hintergrund und Einfluß der französischen Revolution
1. Versteht man unter „Revolution" eine Umwälzung im Gegensatz zur „Evolution", die mehr einer stetigen Entwicklung entspricht, so wirft unser Thema die Frage auf, ob durch Revolutionen das Zivilprozeß verfahren tatsächlich in einem solchen Maße beeinflußt worden ist, daß der Gang der geschichtlichen Entwicklung des Prozeßrechts abgebrochen und durch umwälzende Neuerungen das Verfahren einen anderen Sinn und Inhalt bekommen hat. Dabei kannder kontinental-europäische Zivilprozeß durchaus als etwas Einheitliches, als ein Produkt der europäischen Geistesgeschichte begriffen werden, denn in allen europäischen Ländern zeigen sich gemeinsame Linien und eine in vielem gleiche Entwicklung. Hieran hat nicht einmal die Welle der nationalen Kodifikationen des vorigen Jahrhunderts etwas zu ändern vermocht. Abgesehen von den tragenden Prinzipiendes europäischen Zivilprozesses westlicher Prägung sind die einzelnen nationalen Prozeßordnungen allerdings so unterschiedlich und mannigfaltig ausgestaltet, daß es auf den ersten Blick einem unbefangenen Betrachter schwer wird, das Gemeinsame herauszufinden.
Wie jede geistige Schöpfung ist auch ein Prozeßverfahren ein getreues Spiegelbild seiner Zeit.1 Die russische Oktoberrevolution hat tiefgreifende Änderungen auf dem Gebiete der Rechtsentwicklung gehabt. Es sei nur an den Eigentumsbegriff sowjetischer Prägung im Gegensatz zu der uns vertrauten Vorstellung vom Eigentum erinnert, obgleich auch unser Eigentumsbegriff sich in ständiger Wandlung und Bewegung befindet. Die Forderung nach Mitbestimmung seitens der Arbeitnehmer ist dafür gerade jetzt ein beredtes Zeugnis. Wenn die Produktionsmittel aus der Hand der Einzelnen genommen und verstaatlicht bzw. vergesellschaftet werden, wenn die Grenzezwischen privatem und öffentlichem Recht zugunsten des letzteren nicht nur verschoben, sondern in weitem Maße aufgehoben ist, so
liegt es auf der Hand, daß dies nicht ohne Auswirkungen auf den Zivilprozeß, der ganz in den Händen der beiden streitenden Parteien gelegen hat, hat bleiben können.
2. Welche Bedeutung hat gerade der Zivilprozeß für unser Thema? Seit der Zeit, als die Menschen übereingekommen sind, ihre persönlichen Streitigkeiten nicht mehr durch Selbsthilfe und Gewalt selber zu lösen und zu entscheiden, hat es gerichtliche Verfahren gegeben. Man kann diese zurückverfolgen, solange es schriftliche Kunde von frühen Völkern und Kulturen gibt. Sollten die Staaten eines Tages zu der gleichen, uralten Erkenntnis kommen und auch ihre Streitigkeiten in einem gerichtlichen Verfahren entscheiden lassen, so wäre der Krieg verbannt und überflüssig. Ein solcher allgemeiner Entschluß würde allerdings eine geistige Leistung bedeuten, die der Erfindung der Atomenergie gleichkäme! Das gerichtliche Verfahrenbekäme noch weit höheren Rang, als ihm zur Zeit beigemessen wird.
Es bedarf keiner Erklärung dafür, daß ein gerichtliches Verfahren in besonderem Maße in das Leben der einzelnen Menschen eingreift. Dies gilt gleichermaßen für ein Straf- und ein Zivilverfahren. Der Prozeß hat keinen Selbstzweck, er ist Mittel zum Zweck, er dient der Durchsetzung des Rechts im Einzelfall.2 In der Bevölkerung ist das Bewußtsein im allgemeinen durchaus vorhanden von dem „Rechthaben" und „Recht bekommen", von der Schwierigkeit, sein Rechtin einem geordneten Verfahren beweisen zu müssen.
3. Welche Bedeutung Prozeßvorschriften dafür haben, wie ein Anspruch, ein Recht, im Einzelfall durchgesetzt werden kann, wird sehr deutlich, wenn wir uns einige Grundzüge des römisch-kanonischen Prozesses ins Gedächtnis zurückrufen. Dieser durch Professoren im Mittelalter geschaffene Prozeß hatte immerhin als „Gemeiner Prozeß" ein einheitliches Band um alle europäischen Völker geschlagen. Er war geprägt von der Scholastik. Er folgte apriorischen, formalen abstrakten Regeln.3 Er sollte größtmögliche Rechtssicherheit und Klarheit verbürgen. In abstrakte Regeln glaubte man damals alle Vorfälle des Lebens einfangen zu können. Am offenkundigsten wird dies an der gesetzlichen, formalen Beweisregelung, d. h. die mittelalterlichen Prozeßvorschriften schrieben genau vor, wann der Richter von einem Zeugenbeweis überzeugt sein mußte. Ein allgemeines Mißtrauen in die Richter hat natürlich das Seine dazu beigetragen.
So konnte ein voller Beweis nur durch die Aussagen zweier untadeliger Zeugen geführt werden. Es galt der Satz „unus testis — nullus testis", der auch der Vorstellung der Bibel entsprach. Neben dem vollen Beweis gab es den halben, den viertel und noch kleinere Bruchteile eines Beweises. Die Rechtsfolgen daraus waren genau geregelt.
Ebenso gab es fein ausgeklügelte Vorschriften darüber, wann ein Zeuge als nicht untadelig abgelehnt werden konnte, wann er als Zeuge ausgeschlossen war, oder wann er seine Aussage verweigern konnte. Kurz, es war nicht jedermann als Zeuge geeignet. Die Menschen wurden mit dem Maßstab der Ungleichheit gemessen. Das führte zu uns heutzutage merkwürdig und lächerlich anmutenden Ergebnissen. Das berühmte Wort des heiligen Thomas „mulier est minoris virtutis et dignitatis quam vir" hatte einen reichhaltigen Niederschlag in den mittelalterlichen Prozeßvorschriften. So besagtz. B. eine alte venetianische Regel: „omnes mulieres quae sunt in universo mundo non possunt nisi pro uno homine dare testimonium".4 Ein Beispiel aus dem norddeutschen Raum zeigt eine höhere Vorstellung von der Frau als Zeugin, wenn nach einer Prozeßregel das Zeugnis einer Wirtin mehr gilt als von sieben Männern.5 Das Prinzip war das gleiche, der Richter war gebunden, er konnte nicht nach seiner Überzeugung urteilen, sondern mußte von der Aussage von Zeugen überzeugt sein, wenn die formalen Erfordernisse erfüllt waren. Es sei weiter erwähnt, daß der römisch-kanonische Prozeß zur Schriftlichkeit und damit zum geheimen Verfahren führen mußte. Dennoch stellte er einen wesentlichen Fortschritt gegenüber dem auf teilweise irrationalen Momenten beruhenden germanischen Prozeßdar. Die Gottesurteile waren abgeschafft.
4. Auf diesem Hintergrund sollte der Einfluß der französischen Revolution auf den Zivilprozeß gesehen werden.
Ein großer Bewunderer des code de procédure civile, E. Zink, schrieb 1860: „Eine weit verbreitete, und man kann wohl sagen, die gewöhnliche Meinung geht dahin, die großen Prinzipien des französischen Prozesses, die Öffentlichkeit und die Miindlichkeit seien die Hauptsache bei seiner vorzüglichen Tüchtigkeit".6 Die Öffentlichkeit und die Mündlichkeit begeisterten große deutsche Rechtslehrer. Georg Ludwig von Maurer glaubte germanische Züge im französischen Prozeß zu entdecken. Er forderte entusiastisch die Einfüh-
rung der öffentlichen und mündlichen Verhandlung in die deutschen Prozeßordnungen.7 Feuerbachs berühmtes Buch „Die Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerechtigkeitspflege" war von naturrechtlichem Denken geprägt. Dieses schien im französischen Prozeß verkörpert.
Dennoch waren in den deutschen Landen die Prinzipien der Mündlichkeit und der Öffentlichkeit nicht vergessen. Nach einer bremischen Gerichtsordnung von 1751 sollten die Parteien in Sachen von geringfügigem Streite ihre Belange selbst vor Gericht vortragen. Die mecklenburgische Gerichtsordnung von 1770 erwähnt das persönliche Erscheinen der Parteien vor Gericht. Cocceji hatte auf Wunsch Friedrichs des Großen die unmittelbare Beziehung zwischenden Parteien und dem Richter hergestellt.8 Vor allem hatte das Jurysystem die Mündlichkeit und die Öffentlichkeit in England als Garanten des Prozesses ausgeprägt. Zink hat also durchaus richtig gesehen, wenn er feststellte, daß die französische Revolution in diesenbeiden Prinzipien nichts Neues brachte. Sie hat diese allerdings kraftvoll mit neuem Leben erfüllt.
Die geheimen Sprungfedern des französischen Verfahrens sah Zink auf anderem Gebiet. „Bei uns in Deutschland feste Beweistheorie nach positiven Regeln und ein engherziges Streben nach formaler Wahrheit, in Frankreich ungebundene Würdigung der Vorgänge nach dem Inbegriffe der dargebotenen Erkenntnisgründe und ihrem natürlichen Eindrucke auf eine freie Überzeugung".9 Die „conviction intime" des Richters, die freie Beweiswürdigung, enthält die radikale Abwendung von der mittelalterlichen formalen Beweistheorie des Gemeinen Prozesses.10 Schon Voltaire hatte gefordert, man solle Beweise nicht zählen, sondern wägen.11 Ein entscheidendes Wort bei der Einführung der „conviction intime" wird Napoleon zugeschrieben.„Un honnête homme, par son témoignage, ne pourra faire condamner un coquin, tandis que deux coquins pourront faire condamner un honnête homme."12
Allein, der Zeugenbeweis war in Frankreich von untergeordneter Bedeutung. Eine Ordonnanz Ludwigs XIV. von 1667 hatte zugunsten
des Urkundenbeweises entschieden.13 Durch ein Gesetz vom 3. Brumaire des Jahres II wurde diese Ordonnanz zwar hinweggefegt, jedoch durch Gesetz vom 27. Ventôse des Jahres VII wieder eingeführt. Dabei sollte das Mißtrauen alter Revolutionäre gegen die Richter nicht übersehen werden. Marat hatte sich gegen die freie Beweiswürdigung ausgesprochen.14 Auch das Prinzip der freien richterlichen Beweiswürdigung war nicht neu. Im klassischen römischen Recht war es bekannt.15
Die französische Revolution brachte also keinen neuen Gedanken für den Zivilprozeß. Sie hielt insbesondere fest an der Herrschaft der Parteien über den Prozeß, sie waren die domini litis, während dem Richter mehr die Rolle eines unparteiischen Schiedsrichters zufiel. Dies entsprach ganz der damaligen liberalistischen Auffassung vom Prozeß.16
Dennoch liegt der Schwerpunkt und auch das Verdienst der französischen Revolution auf der Wiederbelebung nicht nur der Prinzipien der Öffentlichkeit und der Mündlichkeit, sondern auf dem Bruch mit der formalen Beweistheorie des Gemeinen Prozesses. Hierbei handelte es sich um mehr als nur eine Wiederbesinnung auf einaltes römisches Prozeßprinzip. Es war die teilweise Überwindung der mittelalterlichen Prozeßlehren. Aber es handelte sich mehr um eine Evolution als um eine Revolution im prozessualen Denken. Denn mit der formalen Beweistheorie wurde nicht konsequent gebrochen. Diesegalt weiter für den Urkundenbeweis und die Parteieide.17
Die „liberté" wurde durchgeführt, sie wurde abgesichert durch die Garanten der Öffentlichkeit und der Miindlichkeit. Sie wird letztlich auch in der „conviction intime" des Richters offenkundig. Die„fraternité" paßt nicht in den Zivilprozeß. Der echte Charakter eines Streites sollte dabei nicht übersehen werden.
Die „égalité" ist nur formal durchgeführt, denn eine reiche Partei hat andere Möglichkeiten im Prozeß als eine arme. Die Parteiherr-
schaft verbietet dem Richter insoweit aus seiner unparteiischen Stellung herauszutreten. Immerhin führte die „égalité" zur Abschaffung der Patrimonialgerichtsbarkeit und der besonderen Gerichtsstände für den Adel.18 Im ganzen gesehen hat der Zivilprozeß eine ihm innewohnende Beharrlichkeit gezeigt, die nur geringe Einbrüche der revolutionären Ideen von 1789 erlaubte.
II.
Die Entwicklung des Zivilprozesses in Rußland
1. Die neuere Geschichte des Zivilprozesses in Rußland kann durch zwei Zahlen markiert werden: 1864 und 1964. Beide Zahlen verkörpern je ein Jahrhundert. Im Jahre 1864 wurde die zaristische ZPO erlassen. Sie stand stark unter dem Einfluß des code de procédure civile. Die Parteien waren gemäß der liberalen Auffassung die Herren des Prozesses. Es galten dieselben fünf klassischen Beweismittel wie in allen übrigen europäischen Ländern. Der Urkundenbeweis wurde nach französischem Vorbild bevorzugt, und bei diesem sowie bei den Parteieiden waren nicht unbeachtliche Teile der mittelalterlichen formalen Beweistheorie erhalten geblieben. Kurz, das zaristische Rußland hatte mit dieser Kodifikation den Anschluß an die damalige europäische Entwicklung auf dem Gebiet des Prozeßrechts erlangt.
2. Die Oktoberrevolution ließ zunächst die ZPO aus dem Jahre 1864 unangetastet.19 Sie verhielt sich also zurückhaltender als die französische Revolution, die im ersten Begeisterungsrausch die Prozeßordnung Ludwig des XIV. hinweggefegt hatte, ohne hinreichende Klarheit darüber zu haben, was an deren Stellen treten sollte bzw. wie vage Vorstellungen verwirklicht werden könnten.
3. Eine wesentliche Änderung brachte aber die Volksgerichtsordnung vom 30. 11. 1918. Schon durch dieses Gesetz wurde der sowjetische Richter in einer den westlichen Richtern unbekannten Weise gebunden. Er sollte sich bei allen seinen Entscheidungen von dem sozialistischen Rechtsbewußtsein leiten lassen. Auf die Bedeutung dieses Begriffes für den sowjetischen Zivilprozeß werden wir noch zurückkommen.
4. Im Jahre 1923 wurde eine neue ZPO erlassen. Diese schränkte die Parteiherrschaft über den Zivilprozeß in erheblichem Umfange ein. Es war zwar weiter die Rede von der Parteidisposition, doch Kritiker stellten nicht zu Unrecht die Frage, ob diese mit der Dispositionsmaxime westlicher Prägung mehr gemeinsam habe als den Namen.20 Unter gleichen Bezeichnungen begannen die Sowjetrussen etwas anderes zu verstehen, als es bisher in allen übrigen Ländern Europas der Fall gewesen war.
5. In der Folgezeit wurde die Justizreform in verschiedenen Wellen vorangetrieben. Dabei ist es bemerkenswert, daß die wissenschaftlichen Institute eine wesentliche Mitarbeit leisteten. Am 18. 12. 1961 billigte der Oberste Sowjet die Grundsätze der neuen Verfahrensordnung für den Zivilprozeß. Danach setzte in allen 15 Unionsrepubliken eine beachtenswerte Aktivität der Gesetzgebungsorgane ein, die bereits nach drei Jahren zum Abschluß von Kodifikationen führte. Als Ergebnis sei hier behandelt die am 1. 10. 1964 in Kraft getretene ZPO der RSFSR, d. h. die neue Zivilprozeßordnung der Russischen Sowjetischen Föderativen Sozialistischen Republik.21 Damit hatte genau hundert Jahre nach dem Gesetzgebungsakt des Zaren Alexander II. die sowjetische Zivilprozeßgesetzgebung ihren vorläufigen Abschluß gefunden.
Es bedarf der Hervorhebung, daß folgende Prinzipien überall, d. h. in allen Unionsrepubliken, unverändert durchgeführt werden müssen:
a) das Kollegialprinzip der Gerichte;
b) die Unabhängigkeit der Richter;
c) die Unterwerfung allein unter das Gesetz;
d) die Öffentlichkeit;
e) die Dispositionsfreiheit der Parteien;
f) das kontradiktorische Prinzip, audeatur et altera pars;
(Auch bei Säumnis einer Partei ist der Fall aufzuklären;)
g) die Gleichheit der Parteien;
h) die Prinzipien der Gesetzlichkeit und der Sicherheit.22
Bis auf die Gesetzlichkeit — sie wird nicht als Recht und Gesetz verstanden — sind uns alle Begriffe bekannt. Sie enthalten auf den ersten Blick weder neue Gedanken noch revolutionäre Änderungen.
Dennoch hat die sowjetrussische Gesetzgebung auf dem Gebiet des Prozeßrechts einen tieferen Graben in Europa aufgerissen, als die eigenständige englische Entwicklung es zu tun vermochte.
III.
Das Neue im sowjetischen Zivilverfahren
1. Im Gegensatz zu der westlichen Auffassung vom Zivilprozeß ist bereits die Zielsetzung im sowjetischen Verfahren eine andere. Hieraus können alle anderen Unterschiede abgeleitet werden. Gurvic umschreibt dieses Ziel folgendermaßen: Es gehe darum, schnell undrichtig Zivilsachen zu entscheiden mit dem Zweck, die sozialistische Struktur zu schützen und das ökonomisch-sozialistische System, sowie die sozialistische Gesetzlichkeit zu stärken und die Bürger im Geiste der Achtung und Befolgung der Gesetze zur sozialistischen Überzeugung zu erziehen.23 Der ideologische Ausgangspunkt tritt hierbei klar zutage.24 Judel'son hat das so formuliert: die sozialistische Rechtsprechung sei eine der Arten der Führung der Gesellschaft durch den sozialistischen Staat.25 Mit der erzieherischen Aufgabe des Zivilprozesses wird bereits als tragendes Motiv angedeutet, daß eine Streitigkeit zweier Bürger nicht mehr allein deren Privatangelegenheit ist, sondern daß diese sozusagen als Krankheitserscheinung in einem größeren Rahmen der Gesellschaft gesehen werden muß.
2. Diesem Ziel entspricht die Überzeugung, man könne mit dem Zivilverfahren die „materielle" Wahrheit erreichen.26 Den westlichen Juristen wird von den Sowjetrussen gerade vorgeworfen, sie begnügten sich im Zivilprozeß mit einer „formellen" Wahrheit. Einer solchen Scheinwahrheit wird die absolute Wahrheit gegenübergestellt. Letztere glaubt man mit Hilfe der dialektischen Methode und des Marxismus-Leninismus erreichen zu können. Der Unterschied zwischen der westlichen und der östlichen Auffassung von der mit dem Zivilprozeß zu erreichenden Wahrheit liegt in Folgendem: Nach
der ersteren stellt das kontradiktorische Prinzip, die grundsätzliche Gegnerschaft der beiden streitenden Parteien, die Punkte, über die sie streiten, klar heraus. Über Fragen, in denen die Parteien einig sind, werden grundsätzlich keine Beweise erhoben. Theoretisch gesehen könnte es trotz der Verpflichtung der Parteien, dem Gerichtden Sachverhalt vollständig und wahrheitsgemäß vorzutragen, vorkommen, daß sie dem Gericht einen falschen Sachverhalt übereinstimmend unterbreiten. Soweit nicht offenkundig ist, daß dieser der Wahrheit nicht entspricht, wird er als wahr unterstellt und darauf das Recht angewendet. Eine solche formale Wahrheit kann natürlich auch nur zu einem formal richtigem Urteil führen. Allein, das Interesse der Parteien an dem ihnen günstigen Urteil, läßt diesen theoretisch denkbaren Fall kaum eintreten. Die Sowjetrussen begnügensich nicht mit dem gegensätzlichen Parteiinteresse, obgleich sie ausdrücklich an dem kontradiktorischen Prinzip festhalten. Sie wollen also einen Zivilprozeß ähnlich fiihren wie einen Strafprozeß, in dem auch die westlichen Juristen sich bemühen, die materielle Wahrheit zu erforschen. Der übereinstimmende Vortrag beider Parteien bindet den sowjetrussischen Richter also niemals. Er ist vielmehr von Amtswegen verpflichtet, nach der materiellen Wahrheit mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln zu forschen. Hiermit hat das sowjetrussische Zivilprozeßrecht jedoch keinen revolutionären Schritt getan. Auch in den westlichen Ländern kennt man außerhalb des Strafprozesses den Grundsatz, die materielle Wahrheit aufzudecken. Das gilt in der Bundesrepublik Deutschland z. B. teilweise für den Ehescheidungsprozeß, für das Statusverfahren im Zivilprozeß, für den Arbeitsgerichts-, den Sozialgerichts-, den Verwaltungsgerichts- und den Finanzgerichtsprozeß.
Es muß ferner bezweifelt werden, ob mit der materiellen Wahrheit die absolute Wahrheit — von der einige Sowjetrussen sprechen — in einem Zivilverfahren überhaupt erreichbar ist.27 Wir übrigen Euro-
päer bescheiden uns vielmehr und meinen, daß wir mit allen uns zu Gebote stehenden Beweismitteln doch immer nur einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit erreichen können.28 Der Franzose Mottini hat das sehr klar formuliert: „Beweisenmüssen bedeutet bereits ein Zeichen der Schwäche im Urteil; es ist ein menschliches Problem, das mit seinen eigenen Mitteln gelöst werden muß."29
3. Die erzieherische Aufgabe des sowjetischen Zivilprozesses und die Forderung nach der Erforschung der materiellen Wahrheit machen eine neue Verteilung der Aufgaben und Befugnisse der streitenden Parteien und des Gerichts notwendig. Es versteht sich von selber, daß das Gericht sich nicht wie ein englischer Richter mit einer Schiedsrichterrolle begnügen kann. Das sowjetische Gericht muß vielmehr sehr aktiv in den Prozeß eingreifen. Es hat nicht nur eine formelle Leitungsbefugnis. Der Untersuchungsgrundsatz tritt vielmehr gebieterisch in den Vordergrund. Auch hierbei handelt es sich zunächst nur um einen graduellen Unterschied zum westeuropäischen Prozeß, denn der kontinentale Richter hat im Gegensatz zu seinem englischen Kollegen seit langem seine passive Rolle aufgegeben. Er kann von Amts wegen die Vernehmung der Parteien anordnen, kann den Sachverständigen-, den Urkundenbeweis und die Augenscheinseinnahme verfügen. In Ehesachen erforscht er die ehefreundlichen Tatsachen von Amts wegen. Im Statusprozeß kann er den Beweis ganz von Amts wegen führen. Der Untersuchungsgrundsatz ist also auch im Zivilprozeß westlicher Prägung gut bekannt.30
4. Dennoch ist die Rolle des Klägers und des Beklagten im sowjetischen Zivilprozeß eine wesentlich andere als in den westlichen Ländern. Die Parteien sind in keiner Weise die Herren des Verfahrens. Zwar sprechen die Sowjetrussen ganz bewußt von dem Dispositionsprinzip der Parteien.31 Während westlich orientierte Juristen aber
darunter verstehen, daß die Parteien über den Prozeß verfügen können in dem Sinne, daß sie entscheiden, ob sie überhaupt klagen wollen oder nicht, ob sie eine Widerklage erheben wollen, ob sie ein Rechtsmittel einlegen, den Klaganspruch anerkennen oder auf ihn verzichten wollen, ob sie ein Versäumnisurteil erwirken oder eines gegen sich ergehen lassen wollen, ob sie dem Gericht den Rechtsstreit durch Vereinbarung eines Schiedsvertrages entziehen, das Verfahren zum Ruhen oder die Hauptsache für erledigt erklären wollen, ist die Rolle der Parteien im sowjetischen Zivilprozeß eine viel beschränktere. Deswegen definiert Judel'son das Dispositionsprinzip als„die durch den gesamten Aufbau des Zivilprozesses gewährleistete Freiheit der Prozeßbeteiligten, über die materiellen und prozessualen Rechte zu verfügen und aktiv Einfluß auf den Verfahrensverlauf zu nehmen, um die Rechte der interessierten Personen entsprechend ihren Interessen, dem Gesetz und dem Interesse des Staates ordnungsgemäß gerichtlich zu schützen".32 Das prägt sich an folgenden Beispielen sehr deutlich aus. Ein Kläger kann zwar darüber entscheiden, ob er eine Klage einreichen will. Er kann jedoch diese Klage nicht mehr ohne Zustimmung des Gerichts zurücknehmen. Er kann nicht ohne Zustimmung des Gerichts verzichten. Der Beklagte kann nicht ohne Einwilligung des Gerichts den Klaganspruch anerkennen. Die Parteien können ohne Billigung des Gerichts keinen Vergleich schliessen und dadurch diesem die Klage entziehen. Ja, die verlierende Partei ist nicht einmal frei in ihrer Entscheidung, ob sie ein Rechtsmittel gegen das ihr ungünstige Urteil einlegen will, weil teilweisesogar der Gerichtspräsident von sich aus ein Rechtsmittel einlegen kann.33
Ein wesentlicher Unterschied zu den westlichen Ländern besteht auch darin, daß das sowjetische Gericht über die Anträge der Par-
teien hinausgehen kann.34 Damit wird mit einem Jahrhunderte alten Satz gebrochen: „ne eat judex ultra petita partium". Das ist in der Tat ein revolutionärer Schritt! Die Dispositionsfreiheit der Parteienist also an dem öffentlichen Interesse der Gesellschaft, des Staates ausgerichtet. Während bei uns die Dispositionsbefugnis der Parteienunbegrenzt ist, sofern sie nicht gegen die guten Sitten verstößt oder durch das materielle Recht beschränkt ist, wird das Dispositionsprinzip sowjetischer Prägung durch den weitgehenden Untersuchungsgrundsatz des Gerichts eingeengt. Von einem Verhandlungsgrundsatz, d. h. daß die Parteien ihre Behauptungen aufstellen und ihre Beweise antreten können, kann kaum die Rede mehr sein, denn in allem kann das Gericht von sich aus den Sachverhalt erforschen. Insoweit wird von einer gemeinsamen Arbeit des Gerichts und der Parteien gesprochen.35 Dabei wird von den Parteien viel verlangt, denn ihre vitalen Interessen treiben sie zu einem konträr gegensätzlichen Verhalten. Dennoch sollen sie ihre Interessen dem Gesetz und den Interessen des Staates unterordnen. Nach sowjetischer Auffassung kann sich die Gleichheit von Kläger und Beklagten im Prozeßnur nach diesem System entfalten. Nach einem bekannten Wort Lenins können der Ausbeuter und der Ausgebeutete nicht gleich sein. Durch sein Eingreifen stellt das Gericht eine materielle Gleichheit unter den Parteien her.36 Der Prozeß soll nicht durch den geschickteren Anwalt auf der einen Seite gewonnen werden. Diese soziale Einstellung zum Prozeß ist allerdings auch dem deutschen Recht nicht fremd, denn nach § 139 ZPO soll der Richter den Sachverhalt und die Rechtslage mit den Parteien erörtern, wobei auch er eine schlecht beratene Partei auf die Folgen ihres Tuns hinweisen muß.37Dennoch ist die Beschränkung der Parteidisposition ein Novum im Zivilprozeß, welches nur aus der Zielsetzung des sowjetischen Prozesses verstanden werden kann.
5. Das Dispositionsprinzip wird aber nicht nur durch die Untersuchungsmaxime des Gerichts beschränkt, sondern noch in anderer
Weise. Nach Art. 41 der ZPO der RSFSR kann auch der Staatsanwalt von sich aus „eine Klage erheben oder einem Verfahren in jedem Abschnitt des Prozesses beitreten, wenn der Schutz staatlicher oder gesellschaftlicher Interessen oder der Schutz von Rechten und gesetzlich geschützten Interessen der Bürger dies erfordern". Endlich wird in einer Reihe von Fällen die Dispositionsfreiheit der Parteien dadurch eingeengt, daß einer stattlichen Anzahl von sog. Prozeßbeteiligten, das sind Organe der staatlichen Verwaltung, die Gewerkschaften, staatliche Institutionen, Betriebe, Kolchosen und andere genossenschaftliche und gesellschaftliche Organisationen, Befugnisse verliehen sind, in den Prozeß der beiden Parteien einzugreifen.38 Diese Maßnahme ist so neuartig, daß offenbar sogar fortschrittlich eingestellte Sowjetrussen davor zurückschreckten, diese Prozeßbeteiligten an allen Zivilverfahren zu beteiligen.39
Allein schon die Beteiligung von Vertretern der gesellschaftlichen Organisationen und Kollektiven am Zivilprozeß eröffnet eine Reihe von Fragen und neuen Perspektiven. Das Prinzip der Öffentlichkeit der Verhandlung gilt mit geringen Modifikationen gleichermaßen für den sowjetischen wie für den westlichen Zivilprozeß. Beide kennen auch den Ausschluß der Öffentlichkeit in bestimmten Ausnahmefällen. Dann bleibt aber die Parteiöffentlichkeit bestehen, d. h. der Kläger und der Beklagte müssen zwingend immer Zugang zu der Verhandlung haben.40 Hinsichtlich der Prozeßbeteiligten wird man in solchen Fällen möglicherweise neben einer Parteiöffentlichkeit voneiner solchen für die Prozeßbeteiligten sprechen müssen. Überdies sind die Rechte der Prozeßbeteiligten im Verfahren abzugrenzen gewesen. Diese sind zwar geringer ausgestaltet als die der Parteien, sie bleiben denn och höchst bemerkenswert. So haben die Prozeßbevollmächtigten das Recht auf Akteneinsicht, sie können an dem Verfahren teilnehmen, Beweismittel beibringen, Fragen stellen und Ausführungen machen. Sie dürfen allerdings keine Rechtsmittel einlegen, keine Aktenauszüge machen und nicht an einem Kassationsverfahren teilnehmen.41 Roggemann sieht in diesem Rückgriff auf die Beteiligung eines Kollektivs keine Neuschöpfung kommunistischen Rechtsdenkens, sondern vielmehr die sowjetische Fortentwicklung alter russischer Rechtstradition.42 Wenn er allerdings auf das dieser eigen-
tümliche Beweismittel, den Sachverhalt mit Hilfe von Personen aus der Nachbarschaft aufzuklären, hinweist, so muß dem entgegengehalten werden, daß auch in anderen europäischen Ländern die Nachbarschaftszeugen früher eine Rolle gespielt haben, ja, im heutigen kanonischen Prozeß als Siebenhänderzeugenbeweis im Ehenichtigkeitsverfahren noch gilt.43
Sowjetische Wissenschaftler sehen in der Heranziehung eines größeren Kreises von Personen aus der Gesellschaft einen Beweis für die Demokratisierung des sowjetischen Zivilprozesses.44 Gurvic meint, die Praxis beweise, daß diese prozessualen Neuerungen den Notwendigkeiten des Lebens Rechnung trügen.45 Auf die Kameradschaftsgerichte soll in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden.
Aus der Beschränkung der Parteidisposition im Zivilverfahren durch den Untersuchungsgrundsatz des Gerichts, durch die Mitwirkung das Staatsanwalts und die Beteiligung der sog. Prozeßbeteiligten kann folgende Schlußfolgerung gezogen werden: Der sehr persönliche Streit der Prozeßparteien ist nicht mehr deren private Angelegenheit, er wird ihrer Verfügungsbefugnis entzogen und in einen größeren gesellschaftlichen Rahmen gestellt.
In dieser Beschneidung der Befugnisse der Parteien liegt der große Unterschied zu dem Zivilprozeß westlicher Prägung. Hierbei mag erwähnt sein, daß noch auf dem 3. internationalen Richterkongressin Berlin im Mai 1969 sich alle beteiligten Richter des In- und Auslandes in einer Resolution dafür ausgesprochen haben, daß die Parteien weiterhin die domini litis bleiben müßten. Die Diskrepanz zuder Parteistellung im sowjetischen Zivilprozeß konnte nicht offenkundiger manifestiert werden.
Das sowjetrussische Beispiel hat natürlich nicht ohne Einfluß auf die Ostblockstaaten bleiben können. Ganz zutreffend spricht Cappelletti deswegen von einer neuen und autonomen „sozialistischen Rechtsfamilie".46 Wie im materiellen Recht die Grenzlinie zwischenprivatem und öffentlichem Recht aufgelockert, wenn nicht bereits abgeschafft ist, so wird der Zivilprozeß ganz von kollektiven Interessen beherrscht. Hierin liegt die große Neuerung, also das Revolutionäre des sowjetischen Zivilverfahrens.
6. Ein weiterer revolutionärer Einschnitt in das Zivilverfahren ist mit der Schaffung des Gerichtsaufsichtsverfahrens geschehen. Um diese Institution zu erklären, bedarf es einiger Worte über die Bedeutung der Rechtskraft für ein Urteil. Jeder Gesetzgeber muß daran interessiert sein, daß ein Streit zweier Parteien einmal ein Ende findet, d. h. für den Fall, daß kein Rechtsmittel gegen ein Urteil in bestimmter Zeit eingelegt wird, oder daß auch die höheren Instanzen entschieden haben und kein weiteres Rechtsmittel mehr gegeben ist, wird eine gerichtliche Entscheidung rechtskräftig. Über denselben Fall kann nun nicht mehr gestritten werden. Diese Maßnahme dient nicht zuletzt der Befriedung unter den Rechtsuchenden und der Rechtssicherheit. Alle Zivilprozeßordnungen — auch die sowjetische — kennen die Institution der Rechtskraft. Die fundamentale Neuerung des sowjetischen Zivilverfahrens liegt darin, daß sie in bisher unbekannter Weise eine Durchbrechung der Rechtskraft zuläßt. Dazu ist das Gerichtsaufsichtsverfahren geschaffen worden. Dieses kann aber nur eingeleitet werden durch einen begrenzten Kreis von Aufsichtsorganen.47 Das sind der Generalstaatsanwalt der UdSSR, dessen Stellvertreter, die Staatsanwälte einer autonomen Republik, der Vorsitzende des Obersten Gerichts der UdSSR und dessen Stellvertreter sowie die Vorsitzenden der Obersten Gerichteder autonomen Republiken. Das schwerwiegende Moment dieses außerordentlichen Rechtsmittels liegt darin, daß dessen Einleitung an keine Frist oder Zeit gebunden ist. Selbst wenn eine Sache seit Jahren rechtskräftig entschieden ist, kann sie erneut behandelt und die frühere Entscheidung in dem Gerichtsaufsichtsverfahren kassiert werden. Das kann eine nicht unbeträchtliche Rechtsunsicherheit mit sich bringen, zumal die Parteien zu dem Aufsichtsverfahren nicht unbedingt geladen werden müssen. Auch dieses Verfahren kann über die Köpfe der Parteien hinweg eingeleitet werden, ganz gleich, ob die Parteien daran interessiert sind oder nicht. Das Oberste Gericht entscheidet als Aufsichtsinstanz. Das Verfahren soll nur eingeleitet werden, wenn schwerwiegende Verfahrensmängel vorliegen. Zunächst mag es gedacht sein als Mittel zur Durchsetzung der ideologischen und politischen Ziele der Regierung. Es bleibt abzuwarten, wie es sich im Laufe der Zeiten bewähren wird.
Das Gerichtsaufsichtsverfahren ist bereits von anderen Ostblockstaaten übernommen worden.48
Aus der ideologischen Zielsetzung des sowjetischen Zivilprozesses
sind dessen Neuerungen zu verstehen. Das Streben nach materieller Wahrheit stellt noch keinen neuen Gedanken dar. Die Art und Weise, wie die Verfügungsbefugnis der Parteien im Zivilprozeß beschnitten wird, ist jedoch im Vergleich zu der herkömmlichen Regelung in den europäischen Prozeßordnungen derart eingreifend, daß sie als revolutionäre Maßnahme verstanden werden muß. Das Gleiche gilt von der Institution des Gerichtsaufsichtsverfahrens. Im übrigen hat die sowjetische ZPO neue Akzente gesetzt und in vielen Vorschriften Veränderungen durchgeführt, ohne jedoch entscheidend von der allgemeinen Entwicklungslinie der europäischen Zivilprozeßordnungen abzuweichen.
IV. Evolutionäre Entwicklungen in der ZPO der RSFSR
Aus der Vielzahl von Änderungen des sowjetischen Zivilverfahrens seien einige herausgegriffen, die auf eine evolutionäre Entwicklung schließen lassen.
1. Es bleibt zunächst festzustellen, daß auch die ZPO aus dem Jahre 1964 an den 5 klassischen Beweismitteln festhält: dem Zeugenbeweis, dem Urkunden-, Sachverständigenbeweis, den Parteierklärungen und dem gerichtlichen Augenschein.49 Dabei ist bemerkenswert, daß der Eid in jeder Form zur Bestätigung einer Aussage abgeschafft worden ist.50 Diese Maßnahme beruht auf der marxistischen Lehre. Das letzte Bindeglied zur Religion ist damit aus dem Prozeßrecht verbannt. Man hat nicht einmal ein Surrogat an Stelle des Eides gestellt, wie sie das neue schwedische Prozeßgesetz von 1948 in der feierlichen Wahrheitsversicherung kennt. Hierbei handelt es sich um einen Bruch mit einer mehrtausendjährigen Tradition, im strengen Sinne auch um etwas Revolutionäres, aber zugleich um das letzte Glied einer evolutionären Entwicklung, denn der Zeugeneid kommt als ultima ratio im deutschen Zivilprozeß nur noch selten vor.51
2. Das Streben nach materieller Wahrheit führt — wie wir gesehen haben — zu einer starken Beschränkung der Befugnisse der Parteien.
Im Interesse der Wahrheitsfindung werden aber auch außerhalb des Prozesses stehende Personen betroffen. Die Schranken zum Schutze des Persönlichkeitsrechts sind weitgehend abgebaut. Das führt dazu, daß grundsätzlich ein jeder als Zeuge aussagen muß.52 Er kann sich weder aus Gründen naher Verwandtschaft, noch weil er sich strafbar machen könnte, noch aus beruflichen oder anderen Gründen auf ein Zeugnisverweigerungsrecht berufen. Auf der gleichen Linie liegt eine allgemeine prozessuale Verpflichtung zur Vorlage von Urkunden. Das Gericht kann deren Vorlage also nicht nur von den Parteien oder Zeugen, sondern von jedem unbeteiligten Dritten verlangen.53 Auf das Briefgeheimnis wird nur unvollkommen Rücksicht genommen. Persönliche Briefe können nur im Einverständnis der Personen, zwischen denen der Briefwechsel stattgefunden hat, in der öffentlichen Sitzung vorgelesen werden.54 Auch in diesen beiden Maßnahmen liegt keine grundsätzliche Neuerung, denn auch andere europäische Länder gehen in der Aussageverpflichtung der Zeugen weiter als die deutsche Regelung.55 Ähnlich verhält es sich mit der prozessualen Verpflichtung zur Vorlegung von Urkunden in anderen Prozeßrechten.
3. Während das deutsche Recht die Parteivernehmung als Beweismittel kennt und diese von der informatorischen Anhörung der Parteien unterscheidet, zählt das sowjetische Prozeßrecht die Parteierklärungen zu den Beweismitteln.56 Da die Parteierklärungen formlos sind und nicht unter einer Wahrheitsversicherung abgegeben werden und falsche Angaben auch nicht unter einer besonderen Strafsanktion stehen, scheint es, als gingen die Parteierklärungen ganz in den Parteibehauptungen auf. Der Fragwürdigkeit eines solchen Beweismittels scheint man sich durchaus bewußt zu sein, denn ein Urteil darf nicht allein auf Erklärungen einer Partei, die nicht durch andere Beweismittel erhärtet sind, gegründet werden.57 Sollte diese Aussage streng genommen werden, so ergeben sich zwei Schlußfolgerungen, die möglicherweise nicht beabsichtigt sind: Einmal wäre das Prinzip der freien Beweiswürdigung zugunsten eines neuen formalen Beweises durchbrochen, zum anderen würde das Institut der Parteierklärungen in starkem Maße abgewertet, so daß eine rückläufige Entwicklung
im sowjetischen Zivilprozeßverfahren zu verzeichnen wäre. Vergessen wir nicht, daß ein während vieler Jahrhunderte geltender Satz „nemo testis auditur in re sua" erst in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts in England und Österreich und erst 1933 durch Einführung einer Novelle in die deutsche ZPO überwunden werden konnte. Vergegenwärtigen wir uns auch, daß die Parteivernehmung auf Umwegen infolge einer konstruktiven Rechtsprechung erst kürzlich Eingang in den französischen Prozeß gefunden hat und im geltenden italienischen und spanischen Prozeß noch unbekannt ist.58 Sicherlich, jeder Praktiker weiß um die Fragwürdigkeit der Parteivernehmung oder der Parteierklärungen. Wenn uns von ostdeutschen Juristen vorgeworfen wird, man könne die Aussagen der Parteien nicht mit einem doppelten Maßstab messen, je nachdem ob sie in Schriftsätzen der Parteien oder in der formlosen Anhörung vor Gericht, oder aber ob sie in einer formalen Parteivernehmung geäußert werden, denn in beiden Fällen sollten ja die Parteien die Wahrheit sagen, so darf doch nicht übersehen werden, daß die formale Parteivernehmung der einer Zeugenvernehmung ähnlich ist.59 Zwar kennt die deutsche ZPO das formelle Cross-examination englischer Prägung nicht. Doch muß sich auch hier die Parteiaussage im Kreuzfeuer der Fragen seitens des Gerichts und der Parteien und deren Anwälte bewähren. Auf diese Weise ergibt sich sehr häufig ein gewaltiger Unterschied zwischen den Erklärungen der Parteien in ihren vorbereitenden Schriftsätzen und dem Ergebnis einer informellen Anhörung der Partei vor Gericht bzw. der formellen Parteivernehmung. Es erscheint uns deshalb fraglich, ob das sowjetische Zivilverfahren insoweit konstruktive Neuerungen bringt.
4. Einen weiteren Bruch mit der Vergangenheit scheint Art. 56 II der ZPO der RSFSR zu bringen, wonach kein Beweis für das Gericht eine bereits im voraus feststehende Beweiskraft hat. Durch diese Vorschrift wird das Prinzip der freien Beweiswürdigung durch das Gericht in besonderem Maße unterstrichen. Es soll also ausdrücklich mit den letzten Resten der mittelalterlichen formalen Beweistheorie gebrochen werden. Da es keine Parteieide in der Form des zugeschobenen oder Ergänzungseides mehr gibt, hat dieser Satz nur noch Bedeutung für den Urkundenbeweis, der aus traditionellen Gründen auch in der neuen sowjetischen Verfahrensordnung in einiger Beziehung gegenüber dem Zeugeneid bevorzugt wird.60 Die tatsäch-
liche Wirkung eines Zivilurteils für ein weiteres Zivilverfahren unter denselben Parteien soll hier ausdrücklich ausgeschaltet werden, denn sonst kämen wir zu der Ansicht, daß doch noch Reste einer Bindungswirkung von Urkunden übrig geblieben sind, genauso wie Reste einer negativen Bindungswirkung in den Parteierklärungen erhalten sind.61
Das sowjetische Verfahrensrecht hat jedoch mit seiner Befreiung des Urkundenbeweises von Resten der formalen Beweistheorie nichts Neues und Originäres eingeführt, denn auch das schwedische Prozeßrecht von 1948 kennt keine gesetzliche Beweiskraft öffentlicher oder privater Urkunden. Überdies weist Ekelöf zu Recht darauf hin, daß auch der schwedische Richter nicht ohne weiteres über das Vorhandensein einer echten Urkunde hinweggehen kann.62 Mit dem Vorliegen einer solchen unterschriebenen Urkunde ist zumindest bewiesen, daß der Erklärende eine Erklärung, wie sie sich aus der Urkunde ergibt, auch abgegeben hat. Den Gegenbeweis läßt auch die deutsche Rechtsprechung, die noch eine gewisse Bindungswirkung von Urkunden, insbesondere öffentlichen gestaltenden Urkunden kennt, in weitem Maße zu. Der Unterschied zwischen der sowjetischen und schwedischen Auffassung im Vergleich zu der prozessualen Regelung in anderen kontinental-europäischen Ländern liegt mehr im Graduellen, nicht im Prinzip. Legt z. B. ein sowjetischer Schuldner eine vom Gläubiger unterschriebene echte Quittung vor, aus der sich ergibt, daß der Schuldner dem Gläubiger die Forderung bezahlt hat, so wird der Gläubiger nicht mehr beweisen können, daß die Schuld dennoch besteht.
5. Endlich bedarf es eines Eingehens auf die freie Beweiswürdigung selber. Die sowjetische ZPO vermeidet es, von einer „freien Beweiswürdigung" zu sprechen. Das Gericht soll die Beweise vielmehr nach seiner inneren Überzeugung, die auf einer allseitigen, vollständigen und objektiven Verhandlung des gesamten Sachverhalts in der Gerichtssitzung beruht, würdigen und sich dabei vom Gesetz und vom sozialistischen Rechtsbewußtsein leiten lassen.63 Die subjektive Überzeugung des Richters soll danach offenbar zurücktreten. Diese
wird vielmehr an einen gesetzlich vorgeschriebenen Maßstab angeknüpft. Da das Gesetz grundsätzlich keine formalen Beweisvorschriften, wann der Richter überzeugt sein solle bzw. wann nicht, kennt, fragt es sich, was unter dem Begriff „sozialistisches Rechtsbewußtsein"zu verstehen ist. Einige meinen, die Richter müßten sich bei der Beweiswürdigung von den Grundsätzen der marxistischen Dialektik leiten lassen, um zu einer objektiven Wahrheit zu gelangen. Andere fordern, daß alle Subjektivismen der Richter ausgeschaltet werden müßten.64 Eine etwas schwer verständliche Umschreibung des Begriffes vom sozialistischen Rechtsbewußtsein hat der Ostdeutsche Niethammer gefunden.65 Wie sich das praktisch bei der Bewertung von Zeugenaussagen auswirkt, bleibt abzuwarten. Uns fehlt leider eine Einsicht in die sowjetische Gerichtspraxis. Eines kann aber schon jetzt festgehalten werden: die subjektive Überzeugung des Richters allein soll nicht ausschlaggebend sein. Damit hat aber das sowjetische Prozeßrecht keinen neuen Gedanken entwickelt, denn auch in Schweden lehnt man die deutsche Überzeugungstheorie ab und meint, es könne sich nicht um eine subjektive Ermessensfreiheit des Richters handeln, sondern es müsse im Einzelfall nach objektiven Gründen entschieden werden.66 Darin offenbart sich eine klare Tendenz, die mit der französischen conviction intime eröffnete freie Beweiswürdigung von subjektiven Maßstäben zu befreien und an objektive Gründe zu binden. Es fragt sich, ob das Pendel nach der Überwindung der mittelalterlichen formalen Beweistheorie zu weit zugunsten einer freien richterlichen Würdigung ausgeschlagen war, so daß eine gewisse rückläufige Bewegung eingetreten ist.
V.
Schlußfolgerungen
Aus dieser kurzen Skizze lassen sich vielleicht folgende Schlußfolgerungen ableiten:
1. Der Zivilprozeß hat jedenfalls in den letzten Jahrhunderten eine starke Eigenständigkeit bewiesen. Sein Wesen besteht darin, daß ein Rechtsstreit zweier oder verschiedener Personen vor einem staatlichen Gericht nach feststehenden Prozeßvorschriften geführt und vom Gericht entschieden wird.
2. In der Wahl der Beweismittel sind wenige Fortschritte gemacht worden.
3. In der Beurteilung des Beweisergebnisses ist die formale Beweis-
theorie des römisch-kanonischen Rechts bis auf Restteile überall überwunden worden. Tendenzen einer Objektivierung der richterlichen Beweiswiirdigung sind offenkundig.
4. Die entscheidenden Änderungen sind eingetreten in der Verteilung der Aufgaben und Befugnisse der Parteien und des Gerichts.
5. In der Herausnahme des Streites aus den Händen der Parteien und der Hereinstellung in einen größeren gesellschaftlichen Rahmen liegt das eigentlich Revolutionäre des sowjetischen Zivilprozesses. Im übrigen haben die französische und die russische Revolution den Zivilprozeß mehr evolutionär als revolutionär beeinflußt.
Diese Feststellung könnte uns einiges Vertrauen zu dem Zivilprozeß geben, denn in seiner Grundstruktur ist er geeignet, menschliche Streitigkeiten beizulegen oder zu entscheiden. Wir sollten alle so starkes Vertrauen in die Grundlagen eines solchen Prozesses haben, daß wir nichts sehnlicher herbeiwünschen könnten, als daß bald auch Streitigkeiten unter Völkern bzw. unter Staaten grundsätzlich in einem Prozeßverfahren beigelegt werden. Werden die Grundzüge eines Gerichtsverfahrens überall anerkannt, so dürfte es nicht mehr gegen den Souveränitätsanspruch verstoßen, wenn jeder Staat bereit wäre, seinen Streit mit einem anderen Staat einem internationalen Gerichtshof zu unterbreiten. Im übrigen zeigt die Eigenständigkeit des Zivilprozesses, daß sie auch ein verbindendes Element zwischen Staaten unterschiedlicher Weltanschauung in sich birgt.